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ALLEIN MIT MIR SELBST

#SALEWAFACES

Es gibt Momente, in denen man tief in sich gehen muss. Doch das gelingt nur, wenn man allein auf den Berg steigt.

Dieses Tal

„Wer weiß, wie viele solcher Täler es gibt“, frage mich auf meinem Weg nach oben. Ich denke laut – wie immer, wenn ich allein bin. Ich bewege mich auf den beiden Hälften meines Splitboards vorwärts, ohne Eile, in meinem eigenen Tempo.

„Man kann sich schon fragen, wie dieses Tal hier eigentlich aussieht.“ Ich bin in eine Wolke gehüllt, deren Wassertröpfchen sich mit meinem Atem vermischen und auf meinem Bart in fantastischen Formationen zu Eis erstarren. Die Sichtweite beträgt wenige Meter, und außer dem rauen Kratzen der Felle auf dem frischen Schnee ist kein Geräusch zu hören. „Ich fühle mich wie in einer Floating-Kapsel – oder wie in einer Tasse Milch.“

Am richtigen Ort

Ich kenne mich hier aus. Ich brauche keine Spur, der ich folgen kann. Ich erkenne die Bäume wieder und könnte sie beim Namen nennen, ganz egal wie viel Schnee sie bedeckt. Ich orientiere mich so gut es geht an der Steigung des Geländes und korrigiere meinen Kurs um einige Grad nach Norden. „Na bitte, wie zu beweisen war.“ In diesem Meer aus Weiß, einer gleichförmigen Farbe mit zwei verschiedenen Texturen, zeichnet sich allmählich ein geometrischer Umriss ab. Das ist alles, was ich brauche, eine letzte Bestätigung. „Ich bin erst zwei oder drei Mal hier gewesen, in dieser Hütte ...“ Seltsam. In Wahrheit habe ich ganze Saisons hier verbracht. „Ich rede nur mit mir selbst und verspüre trotzdem das Bedürfnis, Sprüche zu klopfen, als ob ich einen Kameraden bei Laune halten müsste. Wie dämlich.“

Ich gehe am Zaun entlang, dessen Latten kaum zu sehen sind. „Hic sunt leones ist auf alten Karten zu lesen. Hier sind Löwen, oder sogar Drachen – je nach Inspiration der Geografen. Stattdessen verbarg sich hinter diesen Worten nichts anderes als unerforschtes Land.“ Was auch immer das bedeuten mag, unerforschtes Land. Ich schaue mich um.

Keine einzige Spur ist zu sehen, weder von einem Menschen, noch von einem Tier. Ich kenne die Berge, ihre Lage ist mir vertraut, doch wenn ein Riese einen von ihnen gestohlen hätte, würde mich das kaum wundern.

Unerforschtes Land

„Ich frage mich, woher diese Besessenheit für unerforschtes Land eigentlich kommt.“ Ich halte an, atme durch und trinke schnell einen Schluck Wasser. „Wenn man es genau nimmt, gibt es überall unerforschtes Land“, nuschle ich und schaue in die mich umgebende Leere. Ich setze den Aufstieg fort und folge jetzt der schemenhaften Wand zu meiner Rechten. Ich bin in die richtige Rinne eingebogen, da bin ich mir sicher.

„Ganz abgesehen davon, ...“, fahre ich fort, und mein Atem beschleunigt sich, während das Gelände schroffer wird, „... dass es buchstäblich Millionen von Flecken Erde gibt, auf die noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat. Das ist einzig eine Frage der Wahrscheinlichkeit.“

Ich komme aus der Wolke heraus. Ich weiß es, noch bevor ich es überhaupt sehen kann, weil ich die Veränderung des Lichts um mich herum wahrnehme. Es ist immer noch milchig, aber intensiver, fast schon anstrengend für die Augen. „Zeit, die Brille aufzusetzen.“ Ich krame in meinem Rucksack.

Weiter nach oben

Ich nutze die Pause, um meine Ausrüstung zu wechseln. Mit meinen Spitzkehren, die immer enger beieinander liegen, komme ich nur noch mühsam voran. Ich löse meine Skier und schimpfe ein wenig auf meine Steigeisen, die sich nur widerwillig an meine großen Stiefel anlegen lassen. Raus mit den Pickeln, und weiter geht‘s nach oben.

Ich biege nach links ab. Der Schnee ist härter, fast vereist, was mir das Klettern erleichtert. Die Steigeisen greifen gut, und die Pickel lassen bei jedem Hieb eisige Funken durch die Luft fliegen. Eins, zwei, drei, vier. Immer wieder aufs Neue, Pickel, Pickel, Steigeisen, Steigeisen. Ich schaue nach unten: Wenn ich jetzt abrutsche, erwartet mich eine lange Schlitterpartie. Es ginge ab durch die Mitte auf steinigem Gelände, zweihundert Meter oberhalb der Hütte. Ich schüttle den Kopf und setze meinen Weg nach oben fort.

Hier wird angeseilt

Ich erreiche ein kleines Plateau unweit der Wand. Nun ja, „Plateau“ ist eine sehr wohlwollende Bezeichnung: Zu sehen sind ein Zelt, ein Kocher und ein paar Leute. „Eine kleine Terrasse trifft es wohl eher“, sage ich mir.

Das ist der Ort zum Anseilen. Diese einfache und doch unmittelbare Tatsache trifft mich wie ein Steinschlag. Ich habe heute weder einen Partner noch ein Seil dabei. Oder besser gesagt habe ich nur jenes Stück Seil dabei, das immer irgendwo tief unten im Rucksack vergraben ist – für den Fall der Fälle. Aber das ist etwas ganz anderes. Ich stelle die Pickel ab und nehme den Rucksack vom Rücken. Für den weiteren Aufstieg wäre er nur hinderlich. Es gibt viele Dinge, auf die man auf dem Weg nach oben verzichten kann. Und trotzdem schleifen wir sie mit, mal aus diesem, mal aus jenem Grund. Ich schaue auf meinen Bauch, dorthin, wo meine Hände unter anderen Umständen jetzt wie von selbst einen Achterknoten knüpfen würden.

„Seltsam. Manchmal spürt man eine Abwesenheit so stark und klar, dass man sie als Präsenz wahrnimmt.“

Ich kenne diese Felsen, ich bin sie schon tausendmal hochgeklettert. Ich brauche keinen Partner, der mich hält.

Warum allein?

Los geht‘s. Zunächst langsam, bevor ich das Tempo nach und nach steigere. Ich darf nicht stehenbleiben. Ich darf keinen Schutz anlegen. Ich darf nicht warten, keine Pause machen, mich nicht ausruhen. Ich bin auf mich allein gestellt. Ich komme an einer ersten Verschneidung vorbei und erreiche eine schiefe Felsplatte. Ich hole Luft, blicke erst zurück und dann auf den Grat, über den ich absteigen werde. Der Wind frischt auf und ich spüre seinen sanften, freudigen Atem auf dem Leib. Ich schüttle den Kopf und klettere weiter. Es herrscht absolute Stille. Der Wind hat sich gelegt, die entschiedenen Schläge der Pickel und Steigeisen sind verklungen. Ich befinde mich auf einer Reise: Je höher ich aufsteige, desto tiefer gehe ich in mich.

„Warum allein?“, frage ich mich. „Darum. Alles in allem mag ich Menschen – zumindest in kleinen Mengen. Ich habe ausgezeichnete Partner, an die ich mich anseilen kann, und liebe Freunde. Aber manchmal tut es einfach gut, allein zu sein. Erst wenn man allein ist, schafft man es, die besagte Abwesenheit als Präsenz wahrzunehmen. Erst wenn etwas – oder jemand – nicht da ist, erkennt man seinen wahren Wert.“

Wo man gern verweilt

Ich bin ganz oben. Ich setze mich hin und schaue mich um. Der Wind ist aufgefrischt, jetzt weht eine stärkere Brise. Es ist noch nicht gefährlich, aber man muss ein Auge darauf haben, was der Wind mit dem Schnee anstellt. Jetzt hätte ich gerne jemanden an meiner Seite, um ein High Five zu geben, einander in die Arme zu fallen oder ein Foto zu schießen. Doch ich bin allein mit mir selbst. Genauer gesagt: Ich bin allein mit mir selbst, weil ich es so gewollt habe.

„Nicht, woher man kommt, sondern wo man verweilt, macht einen zu dem, was man ist“, sage ich mir. Manch einer würde vielleicht sagen, dass es nicht besonders elegant ist, sich selbst zu zitieren – doch außer dem Wind ist niemand hier, der mich hören könnte.

Allein mit mir selbst

Ich mache ein Foto. Ich zucke mit den Schultern und beginne, aufmerksam und vorsichtig dem Grat zu folgen. Es wird ein paar Punkte geben, an denen ich mich abseilen muss, soviel ist sicher.

Eine gefühlte Ewigkeit später erreiche ich die kleine Terrasse, meinen Rucksack und mein Splitboard. Die Wolke hat sich über das Tal erhoben und bedeckt nun eine weite Fläche unberührten Pulverschnees, auf der nichts als die Abdrücke meines Aufstiegs zu sehen ist. „Da hat man ja fast ein schlechtes Gewissen, wenn man auf so einem Meisterwerk Spuren hinterlässt“, sage ich zu meinem Board, während ich die beiden Hälften zusammensetze und die Bindungen ausrichte. „Naja, fast.“ Zweimal tief durchgeatmet, und schon wirbelt in jeder Kurve der Pulverschnee hoch. Ich bin allein mit mir selbst.

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