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TRISTAN HOBSON

NORWEGEN

#SALEWAFACES

Ich ziehe meine Handschuhe an, die jeden meiner Finger wärmend und schützend umhüllen. Die norwegische Luft fegt mir um die Ohren, wirbelt den Schnee auf und drängt mich, umzukehren. Mein Verstand und Wille jedoch hält den naturgewaltigen Argumenten stand. Meine Augen wandern über das Gemälde, das sich da vor mir ausbreitet, und versuchen angestrengt, jedes kleinste Detail aufzunehmen: das Blau der Fjorde, das Orange des Herbstes, das Grün und Grau der umliegenden Gipfel. Meine Mundwinkel erheben sich zu einem Lächeln, als mich die Ruhe der Natur ergreift.

Dies ist nur eines der Bilder, die immer wieder vor meinem inneren Auge aufblitzen, seit ich vor kurzem aus Jotunheimen, Norwegen, zurückgekehrt bin. Ein Ort, der genauso fesselnd ist wie die Sagen von den Trollen, die einst diese von Gletschern geformten Berge durchstreiften. Ein Ort, der sich für immer in meine Erinnerungen gebrannt hat – neben den vielen anderen beeindruckenden Orten, die ich als Fotograf bereits bereist habe. Orte wie die Dolomiten im Hinterhof von Salewa, die Alpen von Japan oder mein Heimatgebirge, die Rocky Mountains von Colorado.

Der Nationalpark Jotunheimen umfasst eine Gruppe emporragender, aus Gletscher geformten Gipfel mit messerscharfen Kämmen und ausgedehnten Steilwänden, die in Richtung der darunterliegenden Fjorde abfallen. Er wird nicht ohne Grund als „Heimat der Riesen“ bezeichnet. Der November ist allerdings nicht die beste Reisezeit. Ullr, der legendäre Schneegott, hat jetzt für gewöhnlich schon begonnen, die Berge mit einer dünnen Schneeschicht zu überziehen, die zwar noch nicht zum Skifahren ausreicht, für Wanderer und Kletterer jedoch bereits eine Herausforderung darstellt. Ein unübliches Timing und unberechenbares Wetter können mich aber nicht von meinem Entschluss abbringen, ein paar Tage an ein Fotoshooting dranzuhängen, um mich im hohen Norden allein auf ein Abenteuer zu begeben und meine Fantasie mit nordischen Sagen zu füttern.

„Diese Strecke ist nicht passierbar – das war sie vielleicht vor zwei Tagen, aber nach dem Schneefall der letzten Nacht hast du da keine Chance“, erklärt mir Niklas Hollsten, als wir uns am frühen Morgen bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee eine Landkarte ansehen. Mein Abenteuer würde hier beginnen, am Bygdin Hotel, in 1.048 Meter Höhe über dem Meeresspiegel. Die 100 Jahre alte Hütte liegt am Ende des 25 Kilometer langen Fjords Bygdin und bestätigt meine Vorstellung vom hohen Norden: alte Dampfschiffe, rote Häuser an einem tiefblauen Fjord und Berge, die in allen Richtungen aus den grauen Wolken ragen. Dank der Ratschläge beim Kaffee vonseiten des einheimischen Führers der Hütte passe ich meinen Plan an, um sicherzustellen, dass mein Tag nicht hier enden würde. Anstatt eine Nacht und Nebelaktion Aktion zu starten und irgendwo im Schnee stecken zu bleiben, habe ich mich entschieden niedrigere Berge zu besteigen. Direkt vor meiner Haustür den Gipfel Bitihorn (1608 m), dann ins Tal hinunter zu einem breiten Gebirgskamm, der zwei Fjorde trennt und dann hinauf auf einen unbekannten Gipfel in 1340 Meter Höhe. Vor mir liegt eine Strecke von 28 Kilometern.

Mit einem leichten Tagesrucksack breche ich auf, wandere in und außerhalb meines Schattens den Weg entlang und genieße es, wenn die Morgensonne mich in die Wärme ihrer goldenen Strahlen hüllt. Ich muss zugeben – anfangs fühlte ich mich träge und schwerfällig, mein Körper stöhnte nach zu vielen Tagen des Fotografierens in statischen Positionen. Ich war nicht sicher, ob meine Beine diesen Tag durchhalten würden und fragte mich, ob ich eher nach Hause zurückkehren müsste. Als ich den vereisten Kamm des Bitihorn nach oben stieg, war die Morgenluft eiskalt und ich konnte spüren, wie mein Puls raste, meine Lungen brannten und mein Herz schneller schlug. Aber jetzt wird mein Gang mit jedem Atemzug natürlicher, meine Sinne erwachen und ich schüttele die Trägheit der letzten Woche ab. Ich bewege mich durch die Berge, bin voller Energie und habe jegliche Sorgen über den Tag oder die Entfernung hinter mir gelassen. Ich bin im Paradies – nein, Moment, ich bin in Norwegen. Ich bin in den Bergen und fühle mich wie im Rausch. Ich spüre mich wieder selbst und meine Beine tragen mich durch den restlichen Tag. Mein Weg führt durch den Talboden mit seinen sumpfigen, goldenen Wiesen in Herbstfarben, die sich entlang der wunderschönen blauen Fjorde schlängeln. Wann immer meine Beine schwächeln, motivieren mich die Umgebung und meine Begeisterung, noch ein bisschen weiter zu gehen, um noch ein paar weitere Kilometer in meine Erinnerung zu brennen. Und so erreiche ich schon bald den Gipfel ohne Namen. In dem Wissen, dass ich erst die Hälfte der Strecke geschafft habe, mache ich mich trotz müder Beine aber mit voller Energie auf den Rückweg in Anblick der Berge, die in schmelzendes und formendes Licht gehüllt waren.

Als ich schließlich schlaftrunken in meinen Schlafsack schlüpfe, ist mein Blick erst verschwommen und es dauert eine Weile, bis ich klar sehe – wie beim Scharfstellen eines Fernglases. Über mir breitet sich die Milchstraße aus, getaucht in Lila- und Goldtöne. Ein himmlisches Geschenk. Ein Spektakel nur für mich, das ich ausgiebig in meinem lauschigen Lager genieße, in dem ich für eine letzte Nacht von Norwegens Jedermannsrecht zum Übernachten profitiere.

Am Morgen erwache ich und sehe eine neue Schneedecke und bin dankbar, dass ich meine Pläne geändert und mich nicht auf die höheren Gipfel gewagt habe. Heute habe ich eine kurze Wanderung nach Hovdongo vor mir, eine alte Alm der Wickinger in der Nähe von Flåm. Obwohl die Strecke steil und an einigen Stellen wegen dem Schnee rutschig ist, treibt mich meine Vorstellungskraft schnell voran, als ich in die Wolken über dem Aurlandsfjord aufsteige. Während ich meinen Blick über die nebligen, grauen Weiten streifen lassen, zeichnet meine Fantasie in der Ferne Holzschiffe, die rhythmisch ihre Paddel ins Wasser schlagen und leise über die gläserne Oberfläche gleiten. Und beim Wandern durch den üppigen Wald kann ich mir die umgefallenen, von Moos überzogenen Bäume nur allzu gut als Verstecke für Trolle und mystische Gestalten vorstellen.

Als ich vom strohbedeckten Ackerland in Hovdongo wieder hinabsteige, tritt der Fjord darunter durch die trüben Wolken klar zutage, als wolle er sich an das ruhige und frische Gefühl anpassen, das mich am Ende meines eindrucksvollen zweitägigen Abenteuers überkommt. Auf meinen Lippen breitet sich ein Lächeln aus, weil ich weiß, dass Norwegen Spuren in mir hinterlassen hat.

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