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Tristan Hobson

Völlig losgelöst – Speed Hiking am nördlichen Polarkreis

#SALEWAFACES

Ich öffne den Reißverschluss unseres gelben Zelts, das sich über Nacht mit kalter, feuchter Bergluft gefüllt hat. Unsicher, wie spät es ist, verlasse ich die Wärme meines Schlafsacks und trete hinaus in den ewigen Schein der arktischen Sonne. Ich bin es gewöhnt, dass in den Bergen das Zeitgefühl verschwimmt – aber hier, am nördlichen Polarkreis, bietet nicht einmal das Tageslicht Orientierung. Die einzigen Grenzen, die wir hier haben, sind die unserer Beinen, der Wettervorhersage und unserer Vorstellungskraft.

Gemeinsam mit zwei schwedischen Freunden, Isak Sandling und Simon Rantappa, hatte ich mich auf den Weg gemacht, um eine Woche lang das Speed Hiking-Potential des Sarek Nationalparks zu erkunden. Obwohl wir drei schon Gebirge auf der ganzen Welt kennengelernt hatten, wussten wir, dass Sarek ein besonderer Ort war. Er ist der älteste Nationalpark Europas und einer der am wenigsten erschlossenen. Hier findet man nur wenige Wanderwege, noch weniger Brücken und – abgesehen von ein paar Rentierspuren – kaum markierte Routen. Das Gebiet von Sarek scheint praktisch nicht kartiert zu sein.

Wir drei waren im Süden zu einem gemischten Trip in das Landesinnere aufgebrochen: Wir wollten wandern, um Basislager aufzubauen, und anschließend mittels Speek Hiking die Kammlinien und Gipfel erkunden, die wie die Zacken einer Krone über den glazial geformten Tälern gen Himmel ragten.

„Habt ihr das Gestein auf dem letzten Abschnitt des Felsgrats gehört? Über die flachen Steine zu rennen, war wie mit den Füßen Klavier zu spielen“, sagte Isak, als wir drei uns direkt unter dem Gipfel von Bårddetjåhkkå (2005 m) versammelten, einem der sechs 2000 Meter hohen Gipfel der Region.

Es war erst der zweite Tag unseres Abenteuers, und die Melodie der Steine war nur eines der Dinge, die unsere Fantasie anregten. Wir waren im sumpfigen Flachland gestartet, wo wir 25 Kilometer vom Ausgangspunkt entfernt unser erstes Basislager aufschlugen. Hier gingen die malerischen Wiesen Laplands in eine beeindruckende Berglandschaft über. Während des Speed Hikings am östlichen Rand des Bergmassivs Pårte waren wir dankbar für die schützenden Sohlen an unseren Schuhen, in die sich die Steine unter den Füßen wie spitze Pfeile bohrten und uns zwangen, schnell voranzukommen. Nach Erklimmen des Bergmassivs wurden wir mit einem langen Grat flacher Steine belohnt, die einen perfekten Pfad zum schnellen Vorankommen boten. Auf unserer Wanderung zwischen den Gipfeln verhöhnte uns die Aussicht mit messerscharfen Graten und schieren Granitwänden, die in blaue Gletscher hinabstürzten, ehe sie in das alpine Delta des Flusses Rappa übergingen. Das nenne ich mal einen eindrucksvollen Vorgeschmack auf das Abenteuer für die kommende Woche.

Zum krönenden Abschluss des Tages warf ich einen Blick auf meine Uhr, um zu bestätigen, was der goldene Glanz der Sonne vermuten ließ: Es war gleich Zeit für das Abendessen. Den Blick auf die Uhr gewöhnte ich mir jedoch innerhalb weniger Tage ab, da die Uhrzeit hier überflüssig war. Oft warteten wir bei einer Tasse Kaffee den morgendlichen Regen ab und planten dabei die Route des anstehenden Tages, wobei wir die Freiheit genossen, die uns das Ausbleiben der Dunkelheit schenkte.

Erst als wir bei unserer Wanderung am letzten Tag über die zurückgelegten Kilometer, die überwundenen Höhenmeter und die erklommenen Gipfel sprachen, wurde uns klar, dass wir uns wirklich von allen Zwängen befreit hatten. Genau wie die Zeit hatten auch diese Messgrößen an Bedeutung verloren. Wenn deine einzigen Grenzen die deiner Vorstellungskraft sind, zählt einzig allein das Erlebnis an sich. Und mit müden Beinen und dem Geist voller neuer Erfahrungen wussten wir, dass unser Trip ein voller Erfolg gewesen war.

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